„Wer Digitales nicht versteht, wird die Zukunft von Print nicht gestalten können.“

Keynote von Dominik Wichmann auf der Druck und Design Konferenz 2023 in München. Er sprach über den Umbruch der Printwelt und die Relevanz des Gedruckten in digitalen Zeiten.
Portraitbild von  Dominik Wichmann
Dominik Wichmann
Co-Founder und Chief Creative Officer, Looping Group

Neulich, vor vielleicht wenigen Monaten, ereignete sich im Ministerbüro des Auswärtigen Amtes in Berlin folgende Szene: Da kam also der deutsche Botschafter eines fernen Landes, sagen wir zum Beispiel die Mongolei, da kam dieser besagte deutsche Botschafter ins Außenministerium, um dort der Frau Ministerin Bericht über die Lage in der Mongolei zu erstatten. Er betrat das Büro der Ministerin, man schüttelte sich  kurz die Hände und setzte sich.

            „Herr Botschafter“, fragte die Ministerin, „sagen Sie mir mit einem Wort: wie ist die Lage in der Mongolei?

            „Gut“, antwortete der Botschafter. „Gut, Frau Ministerin.“

            „Und in zwei Worten, Herr Botschafter?“

            „Nicht gut“, Frau Ministerin. „Nicht gut.“

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Die Lage des Gedruckten,und die Relevanz der Printmedien in digitalen Zeiten beschäftigt mich und gewiss auch viele andere Menschen in unserem Umfeld sehr - und das wahrscheinlich nicht erst seit ein paar Monaten. Denn die Frage, woraus sich künftig die raison d’etre des Gedruckten speise, reicht weit über die Anliegen einer Industrie und einer Branche hinaus.  Genau genommen sprechen wir von der Zukunft eines kulturellen Themas, wenn wir uns Gedanken über das Morgen von Print machen.

Bedrucktes Papier, das ist und war immer mehr als nur die Möglichkeit, Informationen festzuhalten und weiter zu verbreiten. Bedrucktes Papier war das „große Vernetzungsmedium in der Herausbildung der modernen westlichen Zivilisation“, schrieb der Feuilletonist Lothar Müller über die Materie Papier in seinem Buch „Weiße Magie“.

Papier, so Lothar Müller, das war die Voraussetzung für unser gesamtes Wirtschaftsleben - die physische Bedingung für Papiergeld und Buchführung. Papier, das war auch die Voraussetzung für die gesamte Organisation unserer Gesellschaften - die physische Bedingung in Gestalt von Akten und Formularen. Papier, das war „der Schauplatz für die Erfindung der modernen Seele“ - die physische Bühne für Milliarden privater Tagebucheinträge, Briefe zwischen Freunden, Liebenden und Hassenden. Papier, das war und ist ein Ort der in Worte und Bilder gegossenen Emotionalität. Papier, das war auch Schauplatz der Politik - die Tageszeitung, so formulierte es Hegel einmal sinngemäß, ist das Morgengebet des modernen, politischen denkenden Menschen.

Diese Parameter beschreiben die eigentliche Dimension der Frage nach der Relevanz des Gedruckten im digitalen Zeitalter. Es geht also um weit mehr als nur um die Höhe von Reichweiten, Auflagen, Umfängen, Erscheinungsfrequenzen, Umsätzen und Erlösen. Es geht um die Magie einer Materie. Und um das neue Versprechen eines alten Produktes. Wahrscheinlich geht es um nichts Geringeres als den Wesenskern von Kultur: dass sie sich eben niemals im bloßen Bewahren und im Stillstand konstituiert, sondern immer und seit jeher in ihrer Veränderung entfaltet, der Weiterentwicklung, der Verfeinerung und dem suchenden Blick nach vorn.

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Kommen wir zurück ins Auswärtige Amt, kehren wir zurück zu einer Fragestellung und Szene, die so natürlich niemals stattgefunden hat. Die aktuelle Lage von Print, in einem Wort, ist gut. Einig sind wir uns wahrscheinlich darüber, dass sie in zwei Worten als weitengehend „nicht gut“ zu bezeichnen ist. Zumindest wenn man als Vergleichsmassstab die sogenannten Goldenen Zeiten von dereinst heranzieht.

Und doch widerstrebt es mir und womöglich auch einigen anderen im Saal, sich dieser Logik von schwarz und weiß, gut und schlecht, null und eins anzuschließen. Denn diese Antagonismen entsprechen nicht nur nicht der gelebten Wirklichkeit, sie sind auch Ausdruck des binären, digitalen Denkens. Die Wirklichkeit jedoch besteht allzu oft aus Abwägungen, aus Ambivalenzen und aus Ambiguitäten.

Das, was ich im Folgenden zur Zukunft des Gedruckten in digitalen Zeiten sagen werde, ist deshalb bewusst geprägt von einem Willen zum Uneindeutigen, zum Abwägenden. Vom amerikanischen Politiker und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger gibt es dazu den schönen Satz, dass man, um sich einer Sache absolut sicher sein zu können, entweder alles über diese Sache wissen müsse - oder eben gar nichts.

Weder weiß ich alles über diese Sache, noch weiß ich nichts darüber. Ich befinde mich irgendwo in der Mitte. In der Bewertung der künftigen Relevanz des Gedruckten stehe ich als ein langjähriger, sogenannter Print-Mann vor Ihnen: Ich war 15 Jahre lang Chefredakteur der Zeitschriften SZ-Magazin und STERN. Ich habe ein paar Bücher geschrieben und herausgegeben, viele Autorinnen und Autoren zu ihren jeweiligen Büchern ermutigt und inspiriert, und ich verlege heute einige Zeitschriften. Das von mir gegründete Unternehmen bedruckt jedes Jahr unzählige Tonnen Papier und schickt dieses Papier anschließend in Form von Büchern, Bildbänden, Publikumszeitschriften und Kundenzeitschriften in die Welt hinaus. Gleichwohl verdient die LOOPING GROUP, so heißt dieses Unternehmen, circa 80 Prozent seines Umsatzes nicht mit Gedrucktem. Sondern mit weitgehend digitalen Dienstleistungen.

Ich erzähle Ihnen all das, um Ihnen meine Befangenheit ebenso zu offenbaren wie auch meine Positionierung als als Halbwissender. Nehmen Sie deshalb bitte meine Einschätzungen zum Thema dieser Keynote als das, was sie sind: Beobachtungen. Vermutungen, Gedanken voller Ambivalenzen. Nicht mehr, nicht weniger.

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Lassen Sie sich bitte auf ein kleines Gedankenspiel ein: Stellen wir uns vor, gedruckte Medien seien gerade erst erfunden worden. Stellen wir uns außerdem vor, sie seien nicht nur gerade erst erfunden worden, nein, sie hätten auch vor Tag eins an jene Auflagen erreicht, derer sie sich heute (noch) rühmen dürfen.

So ungefähr ging es mir vor zwei Jahren, als mich die damalige Chefredakteurin der MADAME, die wunderbare Petra Winter, anrief und fragte, ob ich einen Käufer für ihre Zeitschrift wisse. Der Hamburger Bauer Verlag wolle sie verkaufen, denn die MADAME sei leider ein Verlustbringer. Ich beriet mich mit meinen Mitgründern und einigen engen Freunden und wir entschlossen uns nach einigen Prüfungen, die Zeitschriftenmarke zu kaufen. Mit allen Schulden, allen Mitarbeitenden, mit allen Chancen, aber auch allen Herausforderungen - um nicht zu sagen: existentiellen Problemen.

Als noch sehr junges Unternehmen, das damals selbst erst vier Jahre alt war, zahlte die LOOPING GROUP eine sechsstellige Kaufsumme für ein jährlich nicht minder sattes Minus. Und das mitten im zweiten Lockdown. Als alle Läden geschlossen hatten und die Lifestyle-Branche kaum mehr Anzeigen in gedruckten Magazinen schaltete. Es gab damals viele in der Print-Branche, die uns für verrückt erklärten. Denn hatten wir einen Plan? Nein, hatten wir nicht. Hatten wir jedoch die naive, träumerische Hybris, dass die Straße beim Gehen schon irgendwie entstehen werde? Das schon.

Als ein bis zu diesem Zeitpunkt fast rein digital denkendes und agierendes Unternehmen befand sich also nun plötzlich dieser bedruckte Stapel Papier inmitten der LOOPING GROUP. Aus Protest gegen diese Akquise kündigte übrigens sogar eine Mitarbeiterin, weil sie es als überzeugte Bloggerin für komplett old school und grotesk erachtete, mit soviel Zeit und Energie und Geld ein scheintotes Print-Pferd satteln zu wollen.

Aber: So düster die Situation vermeintlich auch zu sein schien, so positiv war sie jedoch gleichermaßen. Denn wir befanden uns in einer ähnlichen Lage wie in dem eingangs zitierten Gedankenspiel: Vor uns lag ein etwas verstaubtes, aber großartiges Produkt. Ein Produkt, das sich noch immer jeden Monat, elf mal im Jahr fast 100.000 Mal verkaufte. Ein Produkt, für das die Kundinnen, sofern sie ein Abonnement abgeschlossen hatten, sogar weit im Voraus bezahlten - ohne überhaupt zu wissen, was genau ihnen dann da nach Hause geliefert werden würde. Was für ein enormer Vorschuss an Geld und an Vertrauen!

Nicht zuletzt lag da auch ein Produkt vor uns, für das viele kundige und loyale, kenntnisreiche Kolleginnen und Expertinnen arbeiteten. Eine wahrhaft großartige und motivierte Redaktion, die viel mitgemacht hatte in den Jahren zuvor. Ein Produkt, das sowohl von B2C-Kunden, also Leserinnen, wie auch gleichzeitig von B2B-Kunden, also Anzeigenkunden, als attraktiv empfunden wurde. Ein Produkt, das Monat für Monat das herstellt, was in unserer Gegenwart zu einem der gefragtesten Güter überhaupt gehört: Aufmerksamkeit. Und obendrein noch ein Produkt, das etwas hat, was alle wollen: Identität, Geschichte, Glaubwürdigkeit.

Ja, Herr im Himmel, wo gibt es denn sowas? Genau: in der angeblich so komplett kaputten, krisenhaften Print-Branche.

Als StartUp ohne viel Geld hatten wir gar nicht die Zeit, uns lange mit der Analyse von wegbrechenden Märkten, Kunden und Kundinnen aufzuhalten. Stattdessen reparierten wir das Flugzeug gewissermaßen während des Fluges. Umgehend formulierten wir eine neue Marken- und Produktvision. Diese Vision bestand nicht mehr daran, bedrucktes Papier zu verkaufen. Vielmehr definieren wir das neue MAISON MADAME als einen Ort, der wie kein zweiter im deutschsprachigen Raum für die Kenntnis der Lebenswelt von wohlhabenden Frauen ab vierzig steht, die ein Interesse an Lifestyle-Themen eint. Das Ziel: diese Gruppe an Frauen so gut zu kennen wie niemand sonst in diesem Land.

Das neue Haus namens MAISON MADAME hat viele Zimmer unter seinem Dach. In einem Zimmer befindet sich ein gedrucktes Magazin: Die MADAME. In einem zweiten Zimmer womöglich irgendwann auch mal ein weiteres gedrucktes Magazin. In einem anderen Zimmer bereits jetzt schon eine eigene Beauty-Produkt-Linie. In einem vierten Zimmer womöglich eine Fernsehserie. In einem fünften Zimmer ein Live-Event. Und auch die mehrfach Mal im Jahr beiliegende Zeitschrift MONSIEUR betrachtet den Mann aus der Sicht einer Frau. Der MONSIEUR wohnt also auch in diesem Haus, diesem MAISON MADAME. Man trifft ihn vor allem im Weinkeller und der Garage.

Wir haben also die Dachmarke auf den Kopf gestellt. Wir haben die Dachmarke von der gesamten Immobilie aus gedacht - und nicht von nur einem Zimmer. Print, das gedruckte Heft also, ist künftig ein Teil eines holistischen medialen Ökosystems - und nicht mehr die Spitze einer Pyramide, der sich alles andere unterzuordnen hat.

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Die künftige Rolle des Gedruckten wird meines Erachtens darin bestehen, weiterhin, aber weniger als bisher stattzufinden - und dies an einem anderen Ort mit einer anderen Aufgabe in diesem neuen, dritten Kommunikationssystem.

Das erste Kommunikationssystem bestand aus einem Sender und einem Empfänger. Sehr vereinfacht gesagt: ein Mönch schrieb eine Bibel ab, was ungefähr einer Lebensaufgabe gleichkam.

Das zweite Kommunikationssystem bestand aus einem Sender und unendlich vielen Empfängern. Dieses System hatte lange Bestand, es reichte von der Erfindung der Druckmaschine bis zur Erfindung des Internets. Es handelt sich um ein System, in dem mutmaßlich alle in diesem Raum, die älter als 35 Jahre sind, aufgewachsen und gesellschaftlich sozialisiert worden sind.

Ein Sender und unendlich viele Empfänger - diese Logik ist auch die Logik, in der wir unsere Industrie, unsere Branche und in Teilen auch unsere Gesellschaft organisiert haben: ein Chefredakteur (fast immer übrigens ein Mann); ein Verleger (auch fast immer ein Mann); ein Programmchef, ein Intendant. Sie alle entschieden, was für unendlich viele Empfänger wichtig ist. Aber auch: eine Titelseite, ein Cover und eine Linie, die sich (im Idealfall) von vorne nach hinten, von oben nach unten durch die Zeitung oder die Zeitschrift zieht.

„All The News That’s Fit To Print“ steht noch immer jeden Tag links oben als Credo dieses zweiten Kommunikationssystems auf der Frontpage der New York Times: ein Chefredakteur entscheidet für eine potentiell unendliche Zahl an Leserinnen und Lesern, was an gestrigen Nachrichten so wichtig ist, dass sie heute in diesem Blatt abgedruckt werden. Damit wird auch das eigentliche, unausgesprochene Leistungsversprechen eines gedruckten Mediums formuliert: Du zahlst auch für die Gewissheit, dass das, was nicht so wichtig ist, es auch nicht ins Blatt geschafft hat. Das Nichts, sozusagen der Weißraum, ist also ebenso Teil des Produkts wie der Inhalt, der Grauwert.

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Mit der Erfindung des Internets und infolge dessen der sozialen Medien, begann die Zeit des dritten Kommunikationssystems. Dieses besteht aus unendlich vielen Sendern und unendlich vielen Empfängern. Das dadurch entstehende Durcheinander empfinden wir (zurecht!) als unsortiert und chaotisch.

Warum? Weil mit dem kommunikativen Chaos auch eine Krise der Autorität. Einhergeht. Wer entscheidet denn, was wirklich wichtig ist, wenn es der eine Chefredakteur nicht mehr tut? Was ist wirklich bedeutsam, wenn es statt der Hierarchie auf der Frontpage nun noch einen Thread gibt, der bei jedem User anders ist (abhängig vom jeweils individuellen Datensatz in meinem Gepäck)? Entscheidet das die Crowd? Die Weisheit der Vielen, die doch so oft in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein bissiger, schwitzender, wütender Mob?

Doch nach und nach entwickeln sich auch in diesem Wilden Westen des dritten Kommunikationssystems Regeln und Autoritäten, bisweilen sogar marktbestimmende Monopolisten. Es gibt Mechanismen in dieser sogenannten Redaktionellen Gesellschaft, in der jeder und jede auch ein Sender, ein Redakteur ist, es gibt Mechanismen, die man verstehen muss, um eine adäquate Antwort auf die Frage nach der künftigen Relevanz des Gedruckten im digitalen Zeitalter finden zu können.

Entscheidend dabei scheint mir zu sein, nicht immer den Verfall einer glorreichen Vergangenheit von Print zum Massstab für die ungewisse Zukunft von Print zu machen. Zentral ist vielmehr eine tiefe Kenntnis und Wertschätzung des Digitalen als Ausgangspunkt für jedwede Überlegungen zur neuen Rolle des Gedruckten. Eine neue Rolle innerhalb einer durch und durch digital geprägten Gegenwart.

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Lassen Sie uns, bevor wir über die neue Relevanz des Gedruckten in digitalen Zeiten sprechen, einmal kurz vergegenwärtigen, worin eigentlich seit eh und je die wesentliche Rolle der Medien bestand: Sie unterstützten Gemeinschaften darin, sich zu konstituieren. Es ist ein elitäres Missverständnis vieler Journalistinnen und Journalisten zu glauben, dass der Sinn und Zweck einer Lokalzeitung (und letztlich sind alle Zeitungen Lokalzeitungen, übrigens selbst die vorhin zitierte „New York Times“, die nur eben die Lokalzeitung einer Weltstadt ist), dass also der einzige Sinn und Zweck einer Zeitung darin bestünde, die Leserinnen und Leser mit Nachrichten und kommentierenden Einordnungen dieser Nachrichten zu beglücken.

In Wirklichkeit war es doch immer so: In das, was uns heute noch intellektuell beglückt, wird spätestens morgen auf dem Wochenmarkt schon wieder der Fisch eingewickelt. Und das, was auf der Vorderseite so klug und flammend formuliert daherkommt, ist auf der Rückseite oftmals mit jenen Informationen bedruckt, die eben auch zum Leistungsversprechen einer Zeitung zählen. Ich rede von jenen Informationen, die uns allen dabei helfen, das soziale Zusammenleben an einem bestimmten Ort zu organisieren: Wie finde ich eine neue Wohnung? Wo finde ich einen neuen Job? Wie finde ich einen neuen Partner? An wen verkaufe ich mein Auto? Wann findet an Allerheiligen der Gottesdienst statt - und apropos: wer ist denn schon wieder gestorben? Gedruckte Medien waren immer auch ein Ort für alle Bedürfnisse und Interessen einer Gemeinschaft.

Heute konstituieren sich Gemeinschaften anders als früher. Viel differenzierter, viel granularer, viel tiefgehender (neulich entdeckte ich zum Beispiel auf TikTok ein Format zum Thema „Glukose“ mit schier unglaublich vielen Followern…). Die Geografie spielt in der Definition von Gemeinschaften heute gewiss eine wesentlich geringere Rolle als vormals. Aber noch immer fällt Medien die Rolle zu, den Kitt für die Stabilität und den Sauerstoff zum Atmen für diese jeweilige Gemeinschaft bereitzustellen. Die Medien heißen heute LinkedIN, Instagram, TikTok, Facebook, Tinder, Immo-Scout, mobile_de - und so weiter. Wo eine digitale Plattform ist, dort ist in der Regel auch mindestens eine Gemeinschaft. Und umgekehrt.

Es handelt sich dabei jedoch um Gemeinschaften, die sich nicht mehr ausschließlich Top-Down organisieren. Gemeinschaften, deren Mitglieder  nicht nur empfangen, sondern auch selbst senden. Co-Creation betreiben. Gemeinschaften, deren Mitglieder bisweilen auf der ganzen Welt verstreut sind und nicht nur innerhalb des Verbreitungsgebiets einer Zeitung oder eines Magazins; Menschen, die ein Interesse, eine Leidenschaft, ein Hobby, ein Anliegen teilen; User, die auf Englisch miteinander kommunizieren, obwohl das Englische oftmals gar nicht ihre Muttersprache ist. In diesen Gemeinschaften, Communitys, ist das Bedürfnis nach Inhalten, nach Content genauso groß wie seit jeher. Wenn nicht sogar unendlich viel größer. Aber die Erzählweise, Produktion und Distribution dieser Contents geschieht grundsätzlich anders als in der prä-digitalen Zeit. 

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Innerhalb von solchermaßen digital verfassten Gemeinschaften wird Gedrucktes deutlich weniger als bisher benötigt. Weniger und anders. Diese Wahrheit resultiert nicht aus der Bedürfnislage der Druck- und Verlagsindustrie. Diese Wahrheit resultiert aus dem Medien-Nutzungsverhalten der Menschen. Wenn aber eine ganze Branche vor der Herausforderung steht, ein Produkt herzustellen, das die Menschen so nicht mehr brauchen, dann hat diese Branche ein veritables Problem. Es sei denn, sie stellt künftig ein Produkt her, das die Menschen zwar nicht unbedingt brauchen, aber trotzdem haben wollen.

Und genau darum wird es meines Erachtens in Zukunft gehen. Print ist ein Produkt, das man nicht zwingend mehr braucht, das man jedoch - im Idealfall - haben möchte. Dieses Paradoxon beschreibt den Wesenskern der Luxuskonsumgüter-Industrie: Sie produziert und verkauft Produkte, die kein Mensch zum Leben braucht, die aber viele Menschen auf der ganzen Welt unbedingt haben, besitzen und konsumieren möchten. Wenn hier die künftige Bestimmung von Print liegt, und davon bin ich überzeugt, dann bedeutet dies aber auch, dass wir von einem anderen, noch wertigeren, sozusagen „printigeren“ Print sprechen - und von einer anderen Funktion dieses Gedruckten innerhalb weitgehend digitaler Gemeinschaften.

Um in diese neue Normalität von Print zu gelangen, ist es von Vorteil, erstens dessen künftige Bestimmung vom Digitalen aus herzuleiten (und nicht etwa von einer sentimentalen Verteidigung des Status Quo ante). Zweitens sollte man anerkennen, dass die gedruckten Auflagen wie auch die Erscheinungsfrequenzen weiterhin irreversibel sinken werden. Drittens müssen wir konzedieren, dass die weitaus meisten künftigen Geschäftsmodelle in der Medienbranche auf Plattformen und nicht mehr in Form von Pyramiden organisiert sein werden. Viertens besteht die primäre Aufgabe von Verlagen in Zukunft darin, eine Zielgruppe zu verstehen - und erst sekundär in der Herstellung und der Verbreitung von Inhalten.

Die neuen Medienhäuser kommen deshalb dauerhaft nicht umhin, alle Formen von Content-Produktion zu beherrschen (ja, auch Print, aber eben nicht nur Print). Also auch Social, auch Audio, auch Video, auch Live. Fünftens sollten Content und Commerce konsequent zusammengedacht und zusammengebracht werden. Und sechstens muss es den Medienhäusern der Zukunft gelingen, zusätzlich zu ihrem bestehenden Personal auch Experten aus Bereichen zu rekrutieren, die heute eher wenig in der Verlagsbranche beschäftigt sind: Daten-Analysten, Programmierer, Community-Manager, Audio- und Video-Experten, SEO-Spezialisten, et cetera. Letzteres klingt einfach. Ist es aber nicht.

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Gedrucktes ist innerhalb dieser neuen medialen Ökosysteme dann relevant, wenn und weil es als Luxuskonsumgut betrachtet wird. Wie genau aber definiert sich Luxus in diesem Kontext? Und zwar heute und in Zukunft?

Das erste Merkmal erwähnte ich bereits: Luxus ist gemeinhin definiert als ein Gut, das ich nicht brauche, das ich jedoch haben möchte. Ein Luxuskonsumgut stillt also nicht primär Bedürfnisse. Es weckt vielmehr Begehrlichkeiten. Umso wichtiger sind deshalb Attribute wie „Verarbeitung“, „Substanz“, „Historie“, „Entlastung“ und „Entschleunigung“.

Luxus hat aber auch noch ein zweites Merkmal: Luxus ist immer auch ein Bekenntnis zur Irrationalität, zur Unvernunft. Und damit verleiht uns der Konsum eines Luxusgutes auch etwas zutiefst Menschliches: Nur ein Mensch weiß, dass es unvernünftig ist, soviel Geld für ein Auto, eine goldene Uhr oder eine Shopping-Tour in einem Feinkostladen auszugeben. Und so widersprüchlich es auch klingen mag: Nur ein das Leben liebender Mensch weiß, dass es unvernünftig ist, Alkohol zu trinken, Zigaretten zu rauchen und anderen Lastern zu nachzugeben. Ein Tier würde all dies niemals tun. Ein Mensch schon, und das, obwohl - oder gerade weil - ihm in der Regel vollkommen bewusst ist, dass es unvernünftig und ungesund ist. Nur der Mensch gönnt sich die Unvernunft, er setzt sich über die Vernunft hinweg. Luxus ist deshalb auch immer ein Ausdruck von menschlicher Selbstbestimmtheit und damit individueller Freiheit.

Das dritte Merkmal besteht in der aktuellen Veränderung des Luxus-Begriffs selbst: Denn in der Welt des neuen Luxus wird Inklusion eine mindestens so große Rolle spielen wie die tradierte Exklusion. Was meine ich damit? Sie alle kennen die Dualität der Begriffe „Luxus“ und „Exklusivität“. Bisweilen scheint es fast so, als bedingte das Eine das jeweils Andere. Luxus ist, was exklusiv ist. Und exklusiv ist das, was Luxus ist.

Diese Allianz mag früher seine uneingeschränkte Richtigkeit gehabt haben. In Zukunft jedoch wird sich der Luxus-Begriff auch hinsichtlich seiner Zugänglichkeit verändern: Inklusiv ist künftig genauso wichtig wie exklusiv. Ich störe mich zwar an dem Begriff, aber die Logik dahinter ist unzweideutig: Luxus-Marken, die ausgrenzen, werden es künftig schwerer haben, als Luxus-Marken, die Teilhabe versprechen. Teilhabe in einer definierten Gemeinschaft. Auch das ist eine Konsequenz der Redaktionellen Gesellschaft, in der wir alle leben; eine Konsequenz einer Öffentlichkeit, die aus Sendern und Empfängern gleichermaßen besteht. Zugang, Partizipation, Mitsprache und auch das menschliche Bedürfnis nach sozialer Distinktion werden sich künftig anders organisieren als noch vor zehn, 15 Jahren.

Wenn wir uns diese drei Merkmale des Luxus vergegenwärtigen, dann zeitigen sie unweigerlich erhebliche Konsequenzen für die Waren dieser Luxuskonsumgüter-Industrie. Und Gedrucktes ist eine dieser Waren.

Absolute Wertigkeit, ein kompromissloses Investment in Materialität, Optik und Inhalt sind eine Konsequenz, die ich meine. Ein Käufer, eine Käuferin eines hochwertigen Print-Produkts kann nur dann eine Leidenschaft dafür entfachen, wenn diese Leidenschaft zuvor in die Herstellung des Produkts investiert worden ist. Das mag in Ihren Ohren esoterisch klingen, aber ich glaube fest daran: man sieht und fühlt es einem Gegenstand an, ob er mit Passion hergestellt worden ist - oder doch nur mit Pragmatismus.

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Unmittelbar nachdem wir die MADAME gekauft und mit MAISON MADAME eine neue Dachmarken-Strategie dafür entwickelt hatten, schlugen wir einen entschlossenen Sparkurs ein, der auch Trennungen von Kolleginnen und Kollegen, von Gewohntem und Vertrautem beinhaltete. Das will ich gar nicht verschweigen. Wir machten die Website dicht. Wir verhandelten neue Druck- und Papier-Verträge und trennten uns von einigen Dienstleistern.

Aber dann investierten wir wieder. In neues Personal, in eine bessere Ausstattung, kurzum: in eine höhere Wertigkeit. Wir setzten den Preis nach oben, spielten plötzlich auf Augenhöhe mit den Wettbewerbern und positionierten die gedruckte MADAME als haptisch erfahrbare Eintrittskarte eine Welt ähnlich gesinnter Leserinnen. Diese Welt besteht auch aus einem gedruckten Magazin, aber eben nicht nur. Die Marke hat heute, zwei Jahre nach der Übernahme durch die LOOPING GROUP, ihren Umsatz gegenüber früher deutlich erhöht und ist inzwischen solide sechsstellig profitabel. Die Abonnements wachsen kontinuierlich und auch in diesem, gesamtwirtschaftlich nicht leichten Jahr, sind meine Kolleginnen bei ihren Anzeigenumsätzen bereits seit Anfang September über dem Vorjahr.

Sprechen wir nun über das zweite Merkmal, die Freiheit: Wenn es dem Gedruckten gelingt (und warum sollte es ihm nicht gelingen?), wenn es Print also gelingt, sich dieses Narrativs zu bemächtigen, des Narrativs der Freiheit also, dann reiht sich der Konsum von Print wieder dort ein, wo er schon mal stand. Denn das Lesen einer Zeitung oder einer Zeitschrift war sehr lange Zeit ein Ausdruck von Freiheit. Der Freiheit des Geistes und der Aufklärung. Den gesellschaftlichen Willen, diese Freiheit zu beschützen, nannte man: Pressefreiheit.

Der Dreiklang von Print, Freiheit und Menschsein ist also per se nichts Neues. Wir müssen uns dessen nur wieder mehr bewusst werden und an die Bedingungen einer neuen Zeit und einem neuen Kommunikations-System anpassen. Ich empfinde es als Ausdruck meiner subjektiven Entscheidungs-Freiheit, am Wochenende Geld für gedruckte Medien auszugeben, die ich im Netz auch für weniger Geld lesen könnte. Ich brauche es nicht, aber ich will es haben. Ich will den Genuss; die Sinneserfahrung beim Blättern und Ausreißen; das soziale Ritual auf meiner Couch; die Tasse Kaffee dazu. Zur meiner vertrauten und geliebten Lokalzeitung, aber auch zur ZEIT, zum Economist, zur Financial Times Weekend, zu Monocle, zum Atlantic Monthly, zur Mare, zu 11Freunde, zur SZ am Wochenende, zur FAZ und natürlich auch zur MADAME sowie den vielen anderen, gedruckten Zufallsbegegnungen einer Woche.

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Im dritten Kommunikationssystem, wo sich Sender und Empfänger auf Augenhöhe begegnen, kommt Print eine neue Rolle zu: Lean Back statt Lean Forward. Am Wochenende statt unter der Woche. Einordnend statt alarmierend. Wissen statt Information. Entlastend statt belastend. Aufheben statt Wegwerfen. Marke statt Produkt.

Erfolgreiche, weil relevante Printmedien werden sich entlang dieser Antagonismen positionieren. Sie werden mehr denn je ein Ausdruck von Entlastung, von intellektuellem und visuellem Genuss gleichermaßen sein; von Opulenz und von der Freiheit, sich all dies zu gönnen. Vor allem sind Printmedien Ausdruck von Zugehörigkeit zu einer Community, einer Gemeinschaft. Papiergewordene Schlüssel zu einer Lebenswelt.

Printmedien, die auf nachhaltige Wertigkeit setzen und Teil eines größeren medialen Markensystems sind, gehört die Zukunft. Letztlich handelt es sich hierbei um die Differenz von Produkt und Marke. Produkte sind so austauschbar wie Nachrichtenwebsites oder Tankstellen. Marken nicht. Marken tragen das Versprechen von Kontinuität in sich. Produkte sind regelmäßig neu. Marken dagegen achten auf ihre Wiedererkennbarkeit.

Für die Gestaltung künftig erfolgreicher Print-Produkte heißt das: Man sollte sie auch konsequent wie Marken gestalten. Als ich noch Chefredakteur des STERN war, schwärmten immer viele mit zittriger Stimme von der guten alten Zeit, Henri Nannen und dem STERN als sogenannter „Wundertüte“, die jeden Donnerstag andere, überraschende journalistische Leckerli enthalte. Diese Zeiten sind vorbei. Die Überraschung gibt es inzwischen im Netz - und weitgehend gratis. Konsistenz und Beständigkeit jedoch gibt es dort, wo Gedrucktes verkauft wird. Ja, mit wechselnden Inhalten, aber stets im identischen Layout, der exakt gleichen Bildsprache, jede Doppelseite eine Musterseite. Fast wie ein Möbelstück, ein gedrucktes Inventar.

Die neue Rolle des Gedruckten zeitigt aber nicht nur Konsequenzen für deren visuelle Gestaltung. Auch ihre inhaltliche Mischung sollte künftig anders sein, wenn Printmedien als ein gleichberechtigter Teil innerhalb eines größeren medialen Ökosystems wertgeschätzt werden wollen. Dort, wo in Social und Live eher konfrontativ erzählt werden muss, kommen Podcast und Print die Aufgaben des Verbindenden zu: Konstruktiv, erklärend und sinnstiftend. Positiv statt negativ. Harmonisch statt konfrontativ. Erklärend statt polarisierend. Print ist künftig noch mehr der versöhnliche, entlastende, kluge und reflektierende Ort einer Medienmarke.

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Mit dem Gedruckten und seiner Relevanz ist es also ein bisschen wie mit dem Land Österreich: wenn man dessen ruhmreiche Vergangenheit zum Maßstab macht, dann handelt es sich heute um ein kleines, zerteiltes, irgendwie unbedeutendes Land. Mit einer viel zu großen Hauptstadt im östlichen Winkel, einem oftmals operettenhaften Gebaren, viel zu viel Sentimentalität das eigene Ich betreffend, einer in Teilen korrupten politischen Elite - und vieles davon gespeist aus allerlei Komplexen infolge einer unermesslich großen, geopolitischen, narzisstischen Kränkung: Ungarn weg, Kaiser weg, Weltkrieg verloren, noch einen Weltkrieg verloren. Die Landkarte sieht plötzlich so klein und verschrumpelt aus wie ein Wiener Schnitzel oder ein zu heiß gewaschener Kaschmir-Pulli. Alles nicht gerade leiwand. Und ja, so kann man es sehen. Dann war früher tatsächlich Vieles, wenn nicht sogar alles: besser.

So muss man es aber nicht sehen.

Die Geschichte könnte nämlich auch wie folgt erzählt werden: ein hoch effektives Land, das durch den Wegfall des Eisernen Vorgangs plötzlich wieder im Zentrum Europas liegt und eine neue Rolle spielt im Konzert der Großen. Neutral, seit jeher polyglott, gut angebunden an die Regionen und Kulturen des Kontinents; reich an Geschichte, reich an Innovationsgeist und Ambition, wiedergeboren aus den Ruinen vieler Niederlagen und Demütigungen. Unabhängig und gedanklich frei, politisch vielleicht bisweilen etwas überambitioniert, und dennoch: heimatverbunden und zugleich modern.

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Kommt also der deutsche Botschafter aus Wien ins Auswärtige Amt, um der Frau Ministerin Auskunft über die aktuelle Lage in seinem Gastland zu geben.

            „Herr Botschafter, sagen Sie mir bitte in einem Wort: Wie ist die Lage in Österreich?“

            „Gut“, Frau Ministerin.

            „Und in zwei Worten", Herr Botschafter?

            „Sehr gut“, Frau Ministerin. „Sehr gut.“

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Druck&Design 2023: Nachbericht und Impressionen

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